Paddel-Geschichten
Herr Müller
von Wolfram Freutel

„Wie bist Du eigentlich zum Paddeln gekommen ?” - werde ich oft gefragt. Da brauche ich nicht lange zu überlegen und sage nur: Herr Müller

Ich gehöre zu den Kindern,, die schon in den 50er Jahren mit den Eltern in den Urlaub fahren konnten.

Unsere erste Fahrt machten wir mit einem gebraucht gekauften Buckeltaunus (1) nach Holland ans Meer. Meine Mutter und meine kleine Schwester schliefen im, mein Vater und ich unter dem Wagen. Ein Jahr später besaßen wir schon ein 2-Mann-Zelt mit Apsis (2). Wir kampierten in Lenste, einem kleinen Flecken an der Ostsee, nahe der Stadt Grömitz. So verbrachte ich meine Ferientage bei gutem und bei schlechtem Wetter am Strand, mit endlosen Besichtigungen im Binnenland oder stundenlangem Warten in kürzlich erst eröffneten Gasthöfen.

Was macht ein kleiner Junge am Strand?
Wir spielten Ringtennis und Prellball, bauten Sandburgen, legten Mosaiken aus Muscheln und warteten auf besondere Ereignisse. Aufregend war es für mich immer, wenn die wenigen auf dem Zeltplatz vorhandenen Klepper-Faltboote durch die Dünen zum Strand gebracht wurden.

Die Außenhaut des Rumpfes glänzte silbrig. An einigen Stellen waren Flick- und Verstärkungsstreifen aufgeklebt. Auf der Oberseite leuchtete das tiefblaue Leinen.
Die Fahrer stiegen in die Boote, alle Bewegungen waren bedächtig, ruhig, vorsichtig und bedeutsam. Es war ein Ritual. Meist stand ich am Strand, versuchte, mich nützlich zu machen, hoffte darauf, mich auch einmal in so ein Boot setzen zu dürfen. Niemand bemerkte mich und meine Träume. Die Fahrer schlossen die Spritzdecken, mit wuchtigen Schlägen trieben sie das Boot durch die heranrollenden Wellen, und bald war das Boot und seine Insassen weit draußen zwischen den Wellen verschwunden.

Herr Müller kam aus dem Osten. Er hatte seine Kindheit und Jugend auf den Masurischen Seen verbracht. Eine Krankheit, die man damals auf dem Lande nicht behandeln konnte, hatte seinen Körper verunstaltet. Seine Arme und Beine waren dünnn und hart wie Stöcke, seine Füße runde, kraftlose Klumpen, seine verformten Hände konnten zupacken wie ein Schraubstock. Unter der hohen Stirn und den wenigen Haaren zierte eine eingedrückte Boxernase sein Gesicht. Er näherte sich in einem grauen, schon vielfach geflickten Faltboot dem menschenleeren Strand. Als das Boot auf dem Kies auflief, sprang in hinzu und griff nach der Fangleine. Herr Müller quälte sich aus dem Boot, benutzte sein Paddel als Krücke und stolperte an Land. Ich hielt die Leine fest, so gut ich konnte, eine jahrelange Freundschaft hatte begonnen. Von nun an kam Herr Müller jeden Tag. Er brachte seine Frau und seine kleine Tochter mit.

„Sie haben einen hilfbereiten kleinen Sohn”, sagte Herr Müller zu meinem Vater. „Wenn Sie es erlauben, würde ich ihn gerne mal zu einer kleinen Fahrt mitnehmen.”
„Er kann noch nicht schwimmen”, gab meine Mutter zu bedenken. Aber dann saß ich doch vorne im Boot, einen riesigen Schwimmreifen um den Bauch.

Wenige Jahre später hatte ich mein erstes eigenes Boot. Jahr um Jahr trafen wir die Müllers, bis dann nach knapp 10 Jahren der Kontakt abbrach. Wenn ich jetzt, 25 Jahre später, beruflich kreuz und quer durch Deutschland reise, gehe ich öfters abends am Meer oder an einem Seeufer spazieren. Ich schaue hinaus auf die riesige Wasserfläche, und manchmal ist mir, als käme ein altes abgekämpftes Faltboot auf mich zugefahren. Hinten sitzt ein Mann mit einer Boxernase, und seine dünnen, harten Arme treiben das Boot mir entgegen.

Wolfram Freutel, 1996

 

1 ▶ „Buckeltaunus” → Ford Taunus G93A - Wikipedia.
2 ▶ „Apsis” bzw. Apside sind Nischen oder Ausbuchtungen in Zelten, welche zur Lagerung von Gepäck genutzt werden.

 

Aktualisierungen:
09.08.2024 → Seite erstellt

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