Der Flokati

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Autor:
Karin Fischer Verlag
Aachen
deutsch
2010
978-3-8422-3909-8
494
Henriette Staudt
Der Flokati - Das Nackedasein

Bemerkung:
Henriette Staudt berichtet in diesem Buch von der wundersamen Zeit der Pubertät aus der Sicht eines (fiktiven) 13jährigen Mädchens (Annette) in den 70er Jahren.
So entdeckt Annette die befreiende Wirkung der Nacktheit, die für sie bislang nur auf das Bade- und ihr Kinderzimmer beschränkt war. Kurz: Nach dem Duschen wollte Annette sich anziehen, bemerkte jedoch, dass die gewünschten Kleidungsstücke im Garten zum Trocknen hingen. Fazit: sie müsste sich etwas anziehen, um die Kleidungsstücke zu holen, die sie eigentlich anziehen wollte. Dies war ihr aber zu umständlich, und sie lief zum ersten Mal - bewußt - nackt durchs Haus ... und dann in den Garten.
Dabei schossen ihr die „witzigsten” Ideen durch den Kopf: Was wohl die Eltern sagen, oder die Nachbarn sie so sehen würden?
Es wäre sehr schön gewesen, wenn der Roman in seiner Erzählung so weiter ginge, aber die Autorin schlägt eine etwas andere Richtung ein. So sind es die „Bestrafungs”-Spiele der achtjährigen Zwillinge Frank und Florian, die zunächst in den Mittelpunkt geraten, dann die Fessel-Spiele von Annette und ihrem Freund.
Positiv anzumerken ist, dass Henriette Staudt die Leserin und den Leser mit ihrer Erzählung nicht alleine lässt, indem die 13jährige Annette immer wieder auf ihrem Flokati liegend, über das „Erlebte” nachdenkt und sich auch mögliche Folgen ihres Handels ausmalt.
Schön ist auf jeden Fall der Ausflug in die 70er Jahre - mit Kettcar, Bonanza-Rad und der Musik dieser Zeit.

Rezension von einem Freund:
„Der Flokati” ist ein Jugendroman, ja fast ist man geneigt zu sagen: ein Kindheitsroman, in dem die Nacktheit eine zentrale Rolle spielt. Aber nicht nur die Sache selbst, auch die daran zwangsläufig hängenden Fragen werden, aus kindlicher Sicht, recht genau beschrieben. Warum sind manche Kinder gerne nackt, andere aber nicht? Warum findet man es spannend, heimlich nackt herumzulaufen? Warum fürchtet man sich davor, nackt entdeckt zu werden und wünscht sich dabei gleichzeitig heimlich genau dieses? Ist es eigentlich böse, seine Hausaufgaben daheim nackt auf dem Teppich liegend zu machen? Würden die Eltern schimpfen, wenn sie es wüssten, oder wäre es ihnen völlig egal? Und wie sieht nun eigentlich so ein Pimmel wirklich aus, von dem man als Mädchen zwar schon tausendmal gehört, aber noch nie etwas „in natura” gesehen hat? Solche und ähnliche Fragen stellen sich Kinder mehr oder weniger alle – sie stellen sie „sich”, nicht ihren Eltern, nicht ihren Lehrern, oftmals auch nicht ihren Freunden, weil sie mit dreizehn Jahren natürlich längst gemerkt haben, wie empfindlich, ja gereizt ihre Umgebung auf das Thema Nacktheit reagieren kann. Und wenn sie dann irgendwann durch das Leben beantwortet worden sind, dann geraten diese kindlichen Fragen wieder in Vergessenheit. Vielleicht kommen sie ja deshalb in den sonstigen so genannten „Jungenerinnerungen” auch nur so selten vor.

Das Leitmotiv (der Untertitel des Romans lautet: „Das Nackedasein”) wird anhand von zwei Hauptpersonen dargestellt: Annette und Petra, die sich dem Thema Nacktheit aus quasi entgegengesetzter Richtung kommend annähern und es je auf ihre Weise zu begreifen versuchen. Aber während die dreizehnjährige Annette das „Nackedasein” für sich entdeckt und mit größter Begeisterung – aber stets heimlich – bei jeder Gelegenheit nackt „zu leben” versucht, entdeckt die vier Jahre jüngere Petra bei sich zunächst nur die klammheimliche Schadenfreude, die sie darüber empfindet, wenn sie die benachbarten, etwa gleichaltrigen Zwillingsjungen zu sehen bekommt, wenn diese ganz unbekümmert nackt im Garten herumtoben und dabei manchmal spielerisch von ihrer großen Schwester „bestraft” werden. Und bald kann Petra sie nicht nur sehen, sondern auch munter herumkommandieren, womit ein heimlicher, aber vielfach gehegter Mädchentraum wahr wird. Wo Petra aber noch zu Beginn nur egoistisch profitiert, da schleicht sich schon bald eine geheime Sehnsucht nach dem so freien Lebensstil der beiden Jungen ein, die sich unter der Aufsicht ihrer großen Schwester ein so unbekümmertes, sorgloses Spiel erlauben können. Für Petra selbst, die bei sich daheim mit ihren Schwestern im latenten Dauerstreit lebt, wäre ein nacktes Herumlaufen bei sich zuhause völlig undenkbar. Diese unbekümmerte „Form der Freiheit” ist ihr zuhause schon lange ausgetrieben worden; das spürt sie, und in Wahrheit beneidet sie ihre beiden Freunde heimlich für die ihnen gestattete Unbekümmertheit im Umgang mit dem eigenen Körper. Dennoch schafft es Petra bis zum Schluss nicht, sich auf das so natürliche und unverdorbene nackte Spiel der beiden Buben einzulassen. Aber ein gewisser Bewusstseinswandel findet trotzdem bei ihr statt, und sei es nur in der Erkenntnis, dass jemand, der nackt im Garten herumtobt, dies tut weil es ihm ganz einfach Spaß macht und nicht deshalb, weil er von irgend einer bösen großen Schwester dazu gezwungen worden wäre.
Realistisch im eigentlichen Sinne ist das darauf folgende Schule spielen von Petra und den Zwillingen sicher nicht. „Echte” Jungen würden es sich bestimmt nicht freiwillig gefallen lassen, von einem Nachbarsmädchen beim Spielen regelmäßig „abgetraft” zu werden. Aber es geht hier wohl auch weniger (wie im ganzen Buch überhaupt) um eine realistische Darstellung von tatsächlichen Kindheitserlebnissen, sondern vielmehr um die Beschreibung von Wunschphantasien und Ängsten der beiden Hauptpersonen rund um das Thema Nacktheit und Dominanz.

Während Petra und die Zwillinge recht früh zu ihrer gemeinsamen Spielform mit dazugehörigem „Regelwerk” finden und dieses dann weitgehend unverändert betreiben, steigert sich Anette zusammen mit ihrem frisch „eroberten” Freund (fast möchte man sagen: unter Benutzung ihres Freundes) immer weiter in ihre „Nackedeispielchen” hinein und nötigt Roland regelrecht, sie bei ihren wilden Phantasien zu begleiten. Aber auch hier driftet die Sache, trotz mancher zweifellos etwas zu ausführlich geratener Detailbeschreibung, nie ins sexistische ab. Das „Spiel” bleibt konsequent auf der präpubertären Ebene, ein weiteres Indiz dafür, dass in diesem Text letztlich keine echten Erlebnisse, sondern tendenziell eher Wunschträume beschrieben werden. Und wenn Roland „nur” Anettes Wunschtraum verkörpert, er also streng betrachtet eigentlich gar nicht existiert, dann kann Anette durch ihn logischerweise auch nicht ihre Unschuld verlieren. Somit bleibt dem Leser, der Leserin das übliche „Groschenroman”- Ende, welches ansonsten stets im „Ersten Mal” gipfelt, auch erspart.

Bei all dem zügellosen Treiben fragt sich Annette, wie es im Text heißt, zwischendurch „durchaus, ob sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank hat”. Hierbei werden klar erste, frühpubertäre erotische Gefühle verarbeitet, vor denen das Mädchen, wenn es sich hinterher wieder beruhigt und einen klaren Kopf hat, dann verwirrt zurückschreckt. Das sich gefangen nehmen und berühren lassen als spielerische Vorform sexueller Hingabe ist hier recht eindeutig, und, wenn man bei Frauen nachfragt, die sich an diese Lebensphase noch einigermaßen gut erinnern können, wohl auch durchaus realistisch beschrieben. Sich nun tatsächlich in diesem Alter vom Freund im Wald nackt fesseln und durchkitzeln lassen, das haben sich wohl nur die allerwenigsten Mädchen je getraut. Aber vorgestellt haben sich derartiges (oder Vergleichbares) anscheinend doch nahezu alle von ihnen – und eben diese Vorstellungen sind es, die hier als Geschichte erzählt werden. Und wieder ist damit die Story zunächst einmal unrealistisch, zumindest, wenn man sie als einen reinen Erlebnisbericht betrachtet. Betrachtet man sie aber als die Beschreibung von heimlichen Wünschen und Träumen von Mädchen im Alter der Protagonistin, dann werden hier Gedankengänge durchaus „realistisch” beschrieben, von denen man in Romanform auf diese Weise nur recht selten lesen kann.

Durch die an mancher Stelle unnötig betriebene Detailversessenheit des Textes bei der äußeren Beschreibung der „Nackedeispiele” drängt sich beim Lesen das nackte Herumtoben und spielerische Bestrafen der Kinder untereinander bisweilen arg in der Vordergrund. Das ist mitunter verwirrend, wenn man noch nicht weiß, worauf der Roman eigentlich hinaus will – hier wäre weniger sicherlich „mehr” gewesen. Man fragt sich dann, was das eigentlich soll. Tatsächlich aber stehen in dem Roman insgesamt weniger diese etwas ausgeflippten nackten Spiele der Kinder im Vordergrund, sondern vielmehr das ausführliche Nachdenken, Verarbeiten und Bewerten derselben. Gemäß dem Titel „Der Flokati” liegt die Hauptperson Annette in ihrem Kinderzimmer immer wieder auf ihrem Flokati-Teppich und grübelt über all ihre Erlebnisse und Experimente nach. Sie fragt sich, warum ihr das, was sie da tut, eigentlich solchen Spaß macht, ob es richtig oder falsch ist, ob sie es ihrer Freundin erzählen sollte oder nicht, und ob wohl andere Kinder die Welt genauso sehen wie sie.
Es werden also nicht nur die vordergründigen Spiele, sondern auch die zu ihnen führenden Gedankengänge, Vorstellungen und Wünsche sehr genau beschrieben. Warum genau will ich eigentlich gerne jemanden fesseln oder mich umgekehrt von ihm fesseln lassen? Der Beantwortung solcher Fragen um Dominanz und Unterwerfung aus der Sicht des noch kindlichen Gemüts wird im „Flokati” sehr viel Beachtung geschenkt.

Man fragt sich hinterher: War das nun extrem, was man da gelesen hat, oder nicht doch eher total harmlos? Gewiss, einerseits werden hier Kinder von ihren Spielkameraden nackt gefesselt und auch verhauen; das mutet beim Lesen zunächst einmal drastisch an. Bei sehr vielen Jugendbüchern (ja selbst Kinderbüchern) kommen als spannungsfördernde Momente oft Elemente von Nötigung und Erpressung, Bandengewalt, Anschwärzungen bei Eltern oder Lehrern und dergleichen Ungerechtigkeiten mehr vor – in unterschiedlichster Abstufung (bei Harry Potter wird z.B. munter gefoltert und gemordet). Dagegen ist auch nichts weiter zu sagen, denn aus irgend etwas muss das Abenteuer ja bestehen; und wer sich auf Indianer-Spiele einlässt, der landet in jedem Jugendbuch zwangsläufig irgendwann am Marterpfahl.
Wenn man nun in Nachhinein auf den „Flokati” zurück blickt, dann stellt man fest, dass nichts dergleichen, das keinerlei echte Gewalt, ja nicht einmal ein handfester Streit zwischen den Kindern stattfindet (vom kurzen Showdown mal abgesehen). Eigentlich „passiert” im strengen Sinne gar nichts; es wird der Alltag der 70er Jahre beschrieben, keine Bankräuber, kein drohender Schulrausschmiss, kein dramatischer Stress mit den Eltern samt angedrohtem Erziehungsheim (der „Klassiker” in den Jugendromanen), kein böser verständnisloser Nachbar, der die Jugend drangsaliert, ebenso keine „Gang” aus der nächsten Straße, die Unruhe stiftet und von den Helden mühsam befriedet werden muss, und auch kein Verrat aus den eigenen Reihen. Auf all diese üblichen Spannungselemente der Jugendliteratur wird verzichtet – und daher haben wir es auch mit einem unüblichen Buch zu tun.

Besonders zu erwähnen ist gerade hier – wir befinden uns schließlich auf einer Freikörperkulturseite –, dass im „Flokati” die Nacktheit, auch wenn sie hinterfragt wird, letztlich durchgehend positiv besetzt ist. In den meisten Jugendromanen kommt Nacktheit (leider!) fast immer nur in Folge einer Nötigung bzw. als ein Instrument der Demütigung vor, ist also immer etwas Negatives. Dass Kinder ganz einfach Spaß am Nacktsein haben, ist in solchen Geschichten höchst selten; vermutlich auch deshalb, weil die Verlage hier lieber der gültigen Mehrheitsmoral folgen, nach der ein nacktes Herumlaufen natürlich als „unanständig” zu bewerten ist. Den Kindern im „Flokati” ist durchaus klar, dass ihr nacktes Spiel etwas Besonderes ist, und dass sie sich gegenüber ihrer Umgebung vorsehen müssen. Sie einigen sich untereinander auf gewisse Spiele, an deren Regeln sie sich alle eisern halten und die einem als Leser, je länger man „in sich geht” und sich zurückerinnert, zunehmend realistisch erscheinen (als beschriebene präpuberträre Wunschphantasien allemal). Und es bleibt die nicht uninteressante Erkenntnis, dass man durch diesen Text mehr als durch die sonst üblichen „Kindheitserinnerungen” in die eigene, heimliche Vergangenheit zurückgeholt wird, als man von Sex zwar noch nichts wusste, wohl aber schon etwas geahnt hat.


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